Kinder mit Behinderung können nicht ohne Therapie bleiben

Landeselternbeirat NRW fordert schnelle Hilfe für betroffene Familien

Das Betretungsverbot für Tagespflege oder Kita hat seit drei Wochen für viele Familien in Nordrhein-Westfalen umfangreiche Folgen für Alltag und Zusammenleben. Im Blickfeld der öffentlichen Diskussion vermisst Meike Kessel, Vorstandsmitglied im Landeselternbeirat (LEB) NRW, bislang Familien von Kindern mit Behinderung oder erhöhtem Förderbedarf.

Neben Tagesroutine und gewohntem sozialen Umfeld fehlt diesen Kindern vor allem der Zugang zu wichtigen Therapien. In den heilpädagogischen oder integrativ arbeitenden Kindertagesstätten erleben die Kinder normalerweise eine feste Struktur von therapeutischen Angeboten, die in den Betreuungsalltag eingebunden ist. Mit Inkrafttreten des Betretungsverbots sind diese Angebote größtenteils ersatzlos weggefallen.

„Die Anwendungen sind für die Gesundheit der Kinder enorm wichtig. Ein Ausfall von 5 Wochen oder mehr ist nicht zu vertreten“, mahnt Meike Kessel mit Blick auf die vorläufig festgesetzte Dauer des Betretungsverbots an. Es sei wichtig, dass die Therapien so schnell wie möglich wieder regelmäßig stattfinden können.

Daher fordert der LEB, dass Kinder mit Behinderung und Kinder mit erhöhtem Förderbedarf ihre Therapien in den Einrichtungen trotz Betretungsverbot fortsetzen dürfen. Dafür sollten sie die Anwendungen im gewohnten Umfeld wahrnehmen oder auf Therapieangebote in den Praxisräumen der Therapeuten ausweichen dürfen. „Wir erwarten schnelle Hilfe für die betroffenen Kinder und Familien“, sagt Nadine Dickhof, Beirat des LEB.

Meike Kessel, AG Inklusion
Vorstand des Landeselternbeirates der Kindertageseinrichtungen NRW

Corona und die Auswirkungen auf Familien mit behinderten Kindern

Berichte von betroffenen Familien

1.

Junge ohne Therapie:
Er erschöpft sehr schnell, hat nicht mehr so eine Ausdauer. Als Beispiel wurde genannt, dass er 500 m laufen konnte und mittlerweile nur noch um die 300 m.

Seelisch geringer belastbar, kommt schnell an seine Grenzen und reagiert aggressiv.

Sehr wenig Appetit, da er eh schon wenig isst. Vorher konnte er sehr kleine durchgekochte Nahrung essen. Zwar nicht kauen, jedoch schlucken. Jetzt wird auch diese nicht mehr toleriert. Hat wieder Probleme beim Schlucken. Neigt mittlerweile dazu, Nahrung zu verweigern und lässt 1-2 Mahlzeiten aus.

Er schreit mittlerweile den ganzen Tag, bis er schlafen geht. Er ist überdreht, hat keine Ruhe mehr, sich mit etwas zu beschäftigen.

2.

In eigener Sache kann ich bei meinem Sohn ebenfalls Verschlechterungen feststellen:
Vor allem sein Gleichgewichtssinn, Stabilität beim Stehen, seine Ausdauer und Geduld, etwas Neues auszuprobieren, haben gelitten.

3.

Corona und seine Herausforderungen
Als Mutter von drei Kindern (8 Jahre, 6 Jahre mit Schwebehinderung und 3 Jahre), die nebenbei derzeit auch 23 Stunden im Homeoffice arbeiten muss, stoße nicht nur ich, sondern das ganze Familiensystem an die Grenzen. Besonders herausfordernd ist die Situation aber mit meiner schwerbehinderten Tochter, die normalerweise eine 1zu1-Betreuung in der Kita hat. Nicht nur, dass ich derzeit als Mutter, Lehrerin, Erzieherin unterwegs bin, was per se schon mal schwierig zu vereinen ist. Nein, derzeit muss ich auch noch Integrationshilfe, Physiotherapeutin, Logopädin, Ergotherapeutin, Sehfrühförderin und Heilpädagogin sein. Wie sicherlich jedem ersichtlich wird, ist diese Masse an Rollen/Aufgaben nicht zu bewältigen. Neben der Tatsache, dass ich mich schuldig fühle, keinem meiner Kinder oder dem Job entsprechend gerecht zu werden, ist das Schlimmste, dass die in den letzten Monaten durch die Therapeuten erzielten Erfolge bei meiner schwerbehinderten Tochter schwinden. Ich versuche so gut es geht, Dinge alltagsintegriert zu übernehmen, aber ich bin halt keine ausgebildete Physiotherapeutin, Logopädin etc.. Ich sehe, dass die nicht stattfindenden Therapien zu einem Verlust der Fähigkeiten meines Kindes führen. Leider ist meine Tochter zusehends deprimierter, da ich Ihren Bedürfnissen nicht zu 100% gerecht werden kann. Hier wäre dringend Hilfe gefordert. Ist das nicht auch ein Notfall? Denn je länger der Ausfall dauert, desto länger müssen Therapeuten daran arbeiten, die Rückschritte wieder wett zu machen. Ich plädiere dafür, dass Kinder mit Therapiebedarf entsprechend in den Notfallplänen berücksichtigt werden. Hier muss es doch Lösungen geben.

4.

Ich als Mutter eines behinderten Kindes fühle mich echt ziemlich allein gelassen. Ich bin momentan total überfordert mit der ganzen Situation 😔
Für meinen Sohn Meiko (5 Jahre) ist das alles ganz schrecklich. Er ist Autist und lebt von einem geregelten Tagesablauf und Routinen im Alltag. Da er weder spricht noch Sprachverständnis hat, versteht er die Welt nicht mehr.
Er bringt mir morgens seine Jacke und zeigt mir deutlich, dass er in die Kita möchte. Da das nicht geht, wird er sehr aggressiv. Er schlägt sich und auch uns. Er ist generell momentan sehr viel am brüllen und weinen. Nicht nur dass die Kita ausfällt, sondern auch dass die Autismus Therapie ausfällt, ist für ihn schwer zu ertragen. Spielverhalten hat er nicht. Fernsehen guckt er nicht. Einfach mal sich mit ihm hinzusetzen, um zu malen, basteln, kneten etc. ist alles nicht möglich da er kein Interesse dran hat. Er macht momentan aus Wut, nicht verstehen und Verzweiflung alles kaputt, sei es Tapete von der Wand reißen, Sachen rumwerfen oder Möbel umschmeißen. Wir können es ihm momentan nicht recht machen, da er das alles einfach nicht versteht.
Wir haben das Glück, dass wir einen großen Garten haben. Die ersten Tage rannte er auch vergnügt im Garten herum. Schnell wurde ihm dies aber zu langweilig und nun wehrt er sich, in den Garten zu gehen. Wir haben 2 Jahre gebraucht, damit er durchschläft und zeitig ins Bett geht. Jetzt ist sein ganzes Schlafverhalten gestört. Einkaufen mussten wir knapp 1,5 Jahre mit ihm erlernen, da er sehr oft reizüberflutet ist. Seit Tag 1, wo alles anfing, gehen wir nicht mehr mit ihm einkaufen, dabei mag er es inzwischen sehr gern.
Die Kita Eingewöhnung zog sich ewig hin. Ich habe große Sorgen, wie es wird, wenn er irgendwann wieder in die Kita gehen wird. Ich habe Angst das er alles neu erlernen muss. Dazu kommt, dass seine Brüder auch keine Schule haben und er verwirrt darüber ist, dass sie immer zuhause sind.
Ich muss gestehen: Momentan komme ich oft an meine Grenzen. Ich bin verzweifelt und traurig zugleich. Man fühlt sich im Stich gelassen. Es wird keine Hilfe angeboten und auf Fragen meinerseits, ob man Tipps für mich bzw. uns hat, kommt halt auch keine wirkliche Antwort.

5.

Mein Sohn hat frühkindlichen Autismus. Leider kann er wegen der Corona-Gefahr keine Therapie bekommen, die für die Entwicklung meines Kindes sehr wichtig ist. Zuhause können wir ihm nicht geben, was er braucht. Anstatt sich weiterzuentwickeln, entwickelt er sich mit der Zeit Schritt für Schritt zurück, weil er vieles zuhause nicht machen kann wie sonst.

6.

Mein Sohn Emil ist Autist und 6 Jahre alt. Eine Routine ist seit Kindergartenschließung nicht hinzubekommen. Er hat kein Interesse an irgendetwas. Er Mein Sohn hat frühkindlichen Autismus. Leider kann er wegen der Corona-Gefahr keine Therapie bekommen, die für die Entwicklung meines Kindes sehr wichtig ist. Zuhause können wir ihm nicht geben, was er braucht. Anstatt sich weiterzuentwickeln, entwickelt er sich mit der Zeit Schritt für Schritt zurück, weil er vieles zuhause nicht machen kann wie sonst, brüllt ständig, wird aggressiv, schlägt mich und vor allem sich selbst. Ich versuche, so gut es geht, seine Interessensgebiete zu fördern (Lego, Technik, Mathe, Bewegung) und dabei ungeliebte, aber wichtigen Themen, wie z.B. Basteln, Malen, Schwungübungen, etc. nicht zu vernachlässigen.
Der Abfall kam rapide, fast über Nacht. Von einem Tag auf den anderen war alles anders für ihn. Und wenn Autisten eins brauchen, dann ist es, auf Veränderungen vorbereitet zu werden. Und damit ist nicht nur so etwas wie Kitaschliessung gemeint, sondern in unserem Fall sogar eine Änderung einer gewohnten Fahrtroute. Jegliche Veränderung bedeutet für ihn immensen Stress.
Dieser Stress zeigt sich durch ständiges Mistmachen. Er zerstört Sachen, setzt das Bad unter Wasser, hat auf die Terrasse uriniert und das große Geschäft gemacht, schreit manchmal ohne Unterbrechung stundenlang, nässt sich sehr oft ein, obwohl er 100% trocken war, etc.
Ich finde es ehrlich gesagt ungeheuerlich, dass die besonderen Kinder in der politischen Corona-Planung außer Acht gelassen wurden. Alles medizinisch Indizierte darf weitergeführt werden, also u.a. Physio-, Ergo-, Logopädie. Autimustherapie wird zwar nicht von einem Arzt verordnet, was hier wohl den großen Unterschied macht, aber es wird aufgrund einer medizinischen Diagnose bewilligt. Und das Aussetzen der Autismustherapie von jetzt auf gleich über einen längeren Zeitraum hat so schlimme Folgen für meinen Sohn, dass ich jetzt definitiv mehr Angst vor seiner Zukunft habe als noch vor 4 Wochen.
Er soll im August eingeschult werden und alles bisher in der Autismustherapie erarbeitete ist fast verloren. Seine Therapeutin kann wieder von vorne anfangen – ein paar Monate vor Einschulung ist das eine Katastrophe. Er kann den Stift nicht mehr richtig halten, seine Aufmerksamkeit ist gleich Null und an still sitzen ist überhaupt nicht zu denken. Seine Aufmerksamkeit hält für ungefähr 5 Minuten. Als er noch Autismustherapie hatte, konnte er sich bis zu 20 Minuten konzentrieren.
Emil kennt keine Gefahren und hat große Weglauftendenz. In der aktuellen Zeit ist an rausgehen überhaupt nicht zu denken, da er einfach auf fremde zulaufen oder wegrennen würde. Wir sitzen also den ganzen Tag in der Wohnung fest und das ist bei seinem extremen Bewegungsdrang eine totale Katastrophe.
Dazu muss ich noch sagen, dass ich selbst auch pflegebedürftig bin und wir momentan keinerlei Hilfen bekommen können. Weder private Hilfen durch die Verhinderungspflege noch andere Hilfen im Haushalt durch die zusätzlichen Betreuungsleistungen der Pflegeversicherung. Wir sind komplett auf uns alleine gestellt.
Emil hat Gdb 80 mit den Merkzeichen G B H und Pflegegrad 3, ich habe GdB 70 und Pflegegerad 2.
Wir werden außen vorgelassen und bekommen keinerlei Hilfen.
An die besonderen Kinder und ihre pflegenden Eltern wurde nicht gedacht. Wie immer!

7.

Hallo,
ich bin Henry (3,5 Jahre Joubert-Syndrom) und auf einmal war alles anders.
Eines Morgens, als mich meine Mama weckte, meinte sie, wir gehen heute nicht in den Kindergarten. Das fand ich total blöd. Auch die Tage darauf sagte sie mir immer wieder, dass es nicht in den Kindergarten gehen würde. Ich konnte mit der Situation gar nicht umgehen. Ich glaube, Mama wusste auch nicht, was sie machen sollte. Wir beide mussten uns irgendwie umstellen. Ich brauche meinen Rhythmus, Regelmäßigkeiten und feste Rituale. Aber die gab es auf einmal nicht mehr. Meine Mama hat normalerweise auch einen anderen Tagesablauf und musste erstmal gucken, wie sie unseren Tag neu strukturieren sollte. In der ersten Woche sind wir viel aneinander geeckt. Meine Mama konnte mir gar nicht das Programm bieten, dass mir meine Erzieher bieten. Denn ich kann fast nicht alleine spielen. Ich muss beschäftigt werden. Ich brauche immer jemanden an meiner Seite, der mit mir spielt. Daher war ich nicht ausgelastet, habe fast aufgehört zu Essen. Nur noch etwas Milch aus der Flasche. Vom Löffel wollte ich gar nichts mehr. Dadurch, dass ich nicht ausgelastet bin, habe ich kein Mittagsschläfchen mehr gemacht. Daher war ich zum frühen Abend hin sehr nörgelig und anstrengend. Normalerweise dürfte ich in die Notgruppe in den Kindergarten, aber die Angst ist groß, dass ich mich anstecken könnte. Daher bleiben wir zu Hause. Die einzige, die uns besucht, ist meine Physiotherapeutin. Damit ich weiterhin gute Fortschritte mache.
Ich darf abends immer ein bisschen Fernsehen gucken. Auf einmal liefen Kindernachrichten. Mama merkte, dass ich diese aufmerksam verfolgen würde und ließ sie mich zu Ende gucken. Danach fragte sie mich, ob ich das verstanden hätte. Ich gab ihr „Ja“ zu verstehen. Danach erzählte sie mir, dass der Virus der Grund sei, warum ich nicht in die Kita gehen könnte, warum ich keine Therapien hätte und warum wir Oma und Opa / Freunde nicht besuchen können. Sie hat das mit mir aufgearbeitet. Ich glaube, da habe ich ein bisschen was verstanden. Ich wollte ab da immer gerne Nachrichten gucken.
Mama fing an einen Rhythmus zu suchen, die Regelmäßigkeiten und die Rituale. Es waren Kleinigkeiten, wie Musik und ganz viel Kuscheln. Sie suchte Dinge, die wir am Tag machen konnten, ohne anderen Menschen zu begegnen. Am Anfang wusste ich nicht, was sie von mir wollte. Aber je öfter ich das gleich machen konnte, desto besser fand ich es. Nach dem anziehen besuchen wir immer Oma und Opa, natürlich auf Abstand und nur hinten im Garten. Wir bringen ihnen die Zeitung. Am Anfang habe ich viel geweint, weil wir nicht rein durften. Meine Oma konnte mich nicht auf den Arm nehmen. Mittlerweile habe ich verstanden, dass ich zur Zeit nicht in die Wohnung darf. Zum Glück ist das Wetter so gut. So können wir auch raus. Mein Papa, der einen Systemrelevanten Job hat, geht fast jeden Tag nach der Arbeit mit mir raus. Da ich
mittlerweile weiß, dass es etwas besonderes ist, freue ich mich immer sehr.

Jetzt nach 3 Wochen bin ich wieder viel zufriedener und lache wieder mehr. Da Mama jetzt etwas länger nicht arbeiten gehen wird, hat sie mehr Zeit für mich und ist auch entspannter geworden. Nimmt sich mehr Zeit für Dinge, die sie mit mir machen möchte. Wenn ich es an einem Tag nicht möchte, machen wir an einem anderen Tag weiter.
Meine Eltern hoffen, dass das was ich durch die Therapien und den Kindergarten schon gelernt habe, nicht wieder verlerne. Jeder kleine Grashalm ist für mich wichtig. Nach den Ferien müssen die Therapien immer mit Wiederholungen anfangen, damit ich wieder weiß wie es geht. Sie hoffen, dass das mühsam aufgebaute, nicht wieder zusammenfällt. Auch viele Arzttermine fallen zur Zeit aus. Teilweise wichtige Termine für meine Entwicklung, auf die sie eigentlich lange gewartet haben. So sieht also im Moment mein Tages / Wochenablauf aus. Mama und Papa geben wirklich alles, damit es mir gut geht. Wir hoffen, dass es bald wieder besser wird. Am meisten fehlt mir der Rest der Familie und meine Kita-Freunde. Aber ich denke, andere sind mehr betroffen.

Bis bald Euer Henry

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